Ein künstlerisches Projekt mit Schüler/innen der Heinz-Brandt-Schule und den Künstlern André J. Raatzsch und Rainer Splitt im Rahmen des Modellprogramms Kulturagenten für kreative Schulen in Kooperation mit der Kunsthochschule Berlin Weißensee
Gesamtkonzept und Projektentwicklung: Alexandra Kersten, Fachbereichsleiterin Künste und Kulturbeauftragte der Heinz-Brandt-Schule, Mona Jas, Kulturagentin und Lehrbeauftragte Art Education an der Kunsthochschule Berlin Weißensee
Zum Ausgangspunkt
Die Heinz-Brandt-Schule war bis zum Schuljahr 2010/11 eine Hauptschule. Seit dem Schuljahr 2011/12 ist sie eine integrierte Sekundarschule und hat auch dadurch eine Schülerschaft, die weniger homogen ist. Die neue Schulform bietet andere Chancen, stellt aber auch neue Anforderungen an das Kollegium. So kommt es, dass die Schule fachübergreifende, individualisierende Lernmethoden durchführt; der Frontalunterricht «ist abgeschafft» und auch herkömmliche Fächer sind wenig auszumachen. Anstatt dessen werden z.B. «Themenzentrierter Unterricht», «Bewegte Pausen» oder «Lernbüros» angeboten. Gleichzeitig ist der Standort nach wie vor in einem sozialen Brennpunkt: So manch/e Schüler/in kommt lieber ab sieben Uhr morgens in die Schule, als zu Hause zu bleiben. Für dieses breite Spektrum an Motivationen und Anforderungen planten wir im Rahmen des Modellprogramms Kulturagenten für kreative Schulen Projekte mit drei verschiedenen Schwerpunkten, die in ihrem Zentrum partizipatorisch angelegt waren. In unserem ersten Projekt Ein Teil-Haben ging es uns darum einer konstanten Schülergruppe die langfristige Arbeit mit von ihnen gewählten Künstler/innen zu ermöglichen. Gespräche im Vorfeld zeigten unter anderem ein breites Interesse an der Gestaltung des Hofes. In dem Projekt Ein Teil-Haben sollte daher eine Schülergruppe externe Künstler/innen kuratieren und im Dialog über Kunst so zu künstlerischen Prozessen einer Hofgestaltung kommen, durch die sie auch sozial aktiv werden können. Im Rahmen des zweiten Projekts Wanted sollten weitere künstlerische Anliegen aus dem Kollegium und der Schülerschaft! in Form von Team-Teaching in enger Zusammenarbeit im Unterricht mit externen Künstler/innen auf den Weg gebracht werden. In dem dritten Projekt Kulturelle Bildung – verankert im Rahmen des Wahlpflichtunterrichts und konzipiert von der Kulturbeauftragten Grit Wöhlert aus der Netzwerkschule Kurt-Tucholsky-Schule sowie den Verfasserinnen dieser Einführung – sollten die Schüler/innen in Kooperation mit Kulturinstitutionen, wie den Kunst-Werken, selbst Methoden der Vermittlung entwickeln und so Impulse zu transformatorischen Prozessen in verschiedene Richtungen setzen. Diese von uns choreografierte, heterogene Projektlandschaft sollte einen Austausch über gestalterisch-künstlerische Anliegen im Hinblick auf die Beteiligung der Schüler/innen ermöglichen. Die vorliegende Publikation dokumentiert und beleuchtet in diesem Spektrum von Herangehensweisen nun das erste Projekt, in welchem externe Künstler/innen gemeinsam mit den Schüler/innen künstlerische Arbeiten entwickelten. Darauf aufbauend gibt es eine weitere Publikation Ton, Steine, Scherben, in denen die anderen Projekte präsentiert werden.
Zum Ablauf von Ein Teil-Haben
Um die zentralen Anliegen an die Schule zu Beginn der Arbeit im Schuljahr 2011/12 herauszufinden, begann das Projekt des Modellprogramms Kulturagenten für kreative Schulen gleich am Anfang mit einer Schülerbefragung. Was waren die Wünsche der Schüler/innen an ihre Umgebung? Wir interviewten eine siebte Klasse und erstellten stichprobenartig Meinungsbilder in den anderen Klassenstufen. Das Ergebnis der Befragungen war eindeutig; es war allen wichtig etwas auf dem Schulhof zu verändern. Insbesondere der Mangel an Sitzgelegenheiten wurde beklagt sowie die ständige Zerstörung des Schulgartens. Trotz seiner schönen Lage und seiner Größe war der Hof noch kein angenehmer Ort und doch für eine Ganztagsschule in seiner Wichtigkeit vergleichbar mit der einer Lunge für den menschlichen Organismus. So war der Wunsch klar – es musste und sollte etwas auf dem Hof passieren.
In den Arbeitsprozessen von Ein Teil-Haben hatten wir als beteiligte Lehrer/innen und Kulturagentin eine rahmende Funktion. Wir begleiteten die Prozesse und unterstützten die entwickelten Anliegen im Rahmen von Unterrichtsstunden. Wir vermittelten den Schüler/innen aktuelle künstlerische Positionen auf dem Gebiet der Kunst im Öffentlichen Raum.
Für den ersten Teil bildeten daher die Schüler/innen des Wahlpflichtkurses Kunst ein okkupatorisches Team. Zunächst konkretisierten sie ihre Wünsche: Was sollte auf dem Hof entstehen, was sollte dort geschehen? Wie sollten denn die Künstler/ innen sein? Darauf aufbauend besprachen wir die Arbeiten verschiedenster Künstler/innen.
Im Rahmen dieser Präsentationen luden die Schüler/innen im Frühling 2012 die Künstler/innen Birgit Schlieps, André J. Raatzsch und Rainer Splitt zunächst zu Kennenlernworkshops ein und konnten mit zweien von ihnen bis zum Juni 2013 kontinuierlich arbeiten. Die Schüler/innen formulierten diese Wünsche an sie. Parallel dazu richteten wir in acht unterschiedlichen Kurzworkshops experimentelle Forschungslabore ein, in denen sich die Teilnehmenden auf ihre Raumwahrnehmung, ihren Erfindungsgeist, ihre Teamfähigkeit und die Entwicklung eigener «Wunschräume» konzentrieren konnten. «Verändere mit dem vorgegebenen Material (Tape, Bänder, Papier) den Hof.», so lautete eine praktische Übung zum gemeinsamen Handeln. «Baue mit deiner Gruppe eine Konstruktion aus Papier, Strohhalmen, Teas, Faden, Büroklammern, mit der du ein rohes Ei aus dem dritten Stock werfen kannst, ohne, dass es kaputt geht.», war eine weitere Übung dieser Art. «Mache so viele Knoten wie möglich.», «Mach mich fertig (als Aufforderung für angefangene Zeichnungen oder auch leere Papiere).», «Zeichne, was du hörst.» und «Stell dich auf einen Tisch und zeichne, was du siehst.», lauteten die Anregungen zum Kennenlernen eines Raums. Als Orientierungsrahmen für die künstlerischen Projekte baute Sven Vogt in der Arbeitslehre mit seinen Schüler/innen ein maßstabsgetreues Hofmodell.
…und was daraus entstand
Die Künstlerin Birgit Schlieps beeindruckte die Schüler/innen des Wahlpflichtkurses Kunst vor allem mit ihrer Arbeit Niagara Falls aus dem Jahr 1920 – 2009, in der ein ehemaliger DDR-Grenzwachturm im Zentrum steht. Als Architektin und Künstlerin ausgebildet, erforschte sie mit den Schüler/innen zunächst den Hof nach geheimen Orten. Dabei trugen die Schüler/innen Masken, die sie zuvor aus Zeitungen selbst gefertigt hatten. In einem weiteren Treffen erarbeitete Birgit Schlieps mit den Schüler/innen Hofmodelle aus Papier. Das Papier war auf der Grundlage von Zeitungsrastern kopiert und bildete so eine spannende Vorlage für die gemeinsame Arbeit. Den Künstler Rainer Splitt luden die Schüler/innen ein, weil sie von dessen Werken sehr fasziniert waren. Rainer Splitt produziert unter anderem Bodenskulpturen mit lebhaften, farbigen Pigmenten, die hochspiegelnd wie Pfützen wirken. Abbildungen seiner Werke machten einen so starken Eindruck auf die Gruppe, dass die Schüler/innen im darauffolgenden Schuljahr gemeinsam mit dem Künstler auf dem Schulhofgelände eigene Pfützen entwickeln und produzieren wollten. Zunächst ging es darum zu entscheiden, was eine Bodenarbeit im Hof überhaupt können muss.
Etwas zum Sitzen bieten für empfindliche Hosen? Grellfarbener Beton, hochpoliert zum Staunen? Schöne Formen zum darauf Stolz sein? Glitzergeschichten, Flip-Flop Farbe zum Überraschen? Kotzgrün oder Kacklila zum Stören?
Mit Beton-Materialproben, Pigmenten und ihren Mischungen sollte nach dieser Sondierungsphase experimentiert werden. Jede/r sollte ihre/seine eigene (kleine) Skulptur entwickeln und produzieren und würde so «Teil haben» und ein «eigenes Teil haben». Daraufhin erprobten die Schüler/innen Formenfindungen mit den Materialien Beton und Gips ausgehend von diesen grundlegenden von Rainer Splitt notierten Fragestellungen:
Was passt zum Ort? Welche Form passt mir? Wie kann man etwas ausdenken, an das man noch nie gedacht hat? Wie wird aus Handlung Form? Wie wäre ein passendes Teil, für mich, wie für die anderen? Was ist wichtig, Substanz oder Oberfläche? Wie funktionier t teilnehmen? Visuell, oder auch emotional, gedanklich, praktisch und körperlich? Gibt es ein Maß für richtig? Welche Rolle spielen Zeit und Kraft? Was nutzt das Nutzlose? Wie kommt es, dass wir etwas mögen?
Die Schüler/innen entwickelten Betonformen aus Körperhaltungen und Umrissen. Später experimentierten sie mit großen Luftballons, in die sie flüssigen und gefärbten Gips einfüllten und anschließend in unterschiedlichsten Weisen bis zu seiner Aushärtung in Formen pressten. Einige setzten oder traten in die gefüllten Lufballons, andere schufen neue Formen durch Drehungen oder arbeiteten im Team. Die so entstandenen Skulpturen erzeugten große Freude. Es entstanden abstrakte an Hans Arp erinnernde Objekte, die zur Berührung einluden. Jede/r hatte nun ihr/sein Teil. Die Ergebnisse dieser Arbeit waren zum Tag der offenen Tür im Januar 2013 zu sehen. Im Juni 2013 wurde in einem weiteren Produktionsschritt Beton in den Hof geliefert und in Großformen gegossen. So stehen nun zwei Betonobjekte im Hof, die in ihren abstrakten Formen an die Auseinandersetzungen der Gruppe mit Formfindungen erinnern und doch gleichzeitig praktisch zum Sitzen einladen. Mit dem Künstler André J. Raatzsch wollten die Schüler/innen im nächsten Schuljahr auf dem Schulhofgelände ein eigenes multifunktionales Gebäude entwerfen, bauen und nutzen. Und dies war ihr Plan: Die Schüler/innen würden mit dem Künstler eine Form für das Gebäude entwickeln und würden diese auch in einer Verkleinerung am Hof-Modell testen.
Dann überlegte sich die Gruppe, was alles in diesem Gebäude passieren könne. «Der Brandt-Clup» – einer der Arbeitstitel, der mit dem Wort «Club» aber eben auch «cup» (engl. Tasse) spielt – sollte mit Sperrholz und gespendetem Material aufgebaut werden. Partys, die Präsentation selbstgemachter Handtaschen, Einladungen von Schüler/innen der Netzwerkschulen, Fotografie-Ausstellungen: All dies könnte dann hier stattfinden. André J. Raatzsch bezog die Schüler/innen von Beginn an in die Konzeption mit ein. Ausgehend von ihrem Wunschmodell recherchierte er gemeinsam mit ihnen den finanziellen Rahmen, wählte Material im Baumarkt aus, kaufte es gemeinsam mit ihnen und transportierte es in die Schule. Im Dezember 2012 baute er in der Projektwoche mit diesem Material mit der Gruppe einen kleinen Pavillon, der ebenfalls zum Tag der offenen Tür präsentiert wurde. Dieser Pavillon wurde dann im Juni 2013 zu einer Art Bushaltestelle umfunktioniert.
Ein vorläufiges Resümee
Nach zwei Jahren intensiver Arbeit ist eine Veränderung auf dem Hof zu spüren, die von vielen mit gestaltet und von allen mit getragen wurde. Durch die Prozesse, in denen auch Sachen schiefgingen – so stürzte eine Gussform ein, das Budget für Material war zu niedrig angesetzt, die Finanzakquise lief nicht, wie zuvor anvisiert – haben wir teilweise auch schmerzhafterfahren, wie dünnwandig Projekte dieser Art sind. Es ist eine große Kunst in einer Schule, die als öffentlicher Raum ständig auch offen ist und sein muss, dauerhaftsichtbare und gleichzeitig von der Schulgemeinschaft erwünschte sowie finanzierbare Produkte in hoher künstlerischer Qualität partizipativ zu entwickeln. Die komplexen handwerklichen Abläufe erforderten ein größeres Engagement des Kollegiums, als dies in den konkreten Situationen manchmal möglich war. Die Schüler/innen haben erlebt, dass es ein langer Weg vom Wunsch zur Umsetzung war und auch, dass man hier scheitern konnte und enttäuscht wurde.
Die künstlerischen Prozesse waren jedoch in allen Fällen komplex, intensiv, überraschend und individualisiert auf die unterschiedlichen Persönlichkeiten der teilnehmenden Schüler/innen abgestimmt. Wir konnten einen großen Lernzuwachs bei den Schüler/innen feststellen – angefangen mit der gewonnen Fähigkeit dreidimensionale Räume zu konzipieren, neue Formen zu entwickeln, mit neuem Material, wie Beton und Gips umzugehen – bis hin zur ökonomischen Planung und letztendlich auch der Entwicklung von Geduld und Frustrationstoleranz.
Wenn wir die Qualität des Produkts im Sinne von Constanze Wimmer fassen, die in ihrer Studie EXCHANGE – die Kunst Musik zu vermitteln als Merkmale der Produktqualität an erster Stelle die künstlerische und pädagogische Durchführung benennt, gefolgt von Innovation/Experiment und der Einbeziehung anderer Künstler, so ist Ein Teil-Haben in diesem Sinne ein sehr erfolgreiches Projekt.
Dafür danken wir insbesondere den Künstler/innen Birgit Schlieps, André J. Raatzsch und Rainer Splitt für ihre empathische und stets geduldige Art, den engagierten Schulleiterinnen Miriam Pech und Daniela Strezinski, dem Kollegium, den Schüler/innen und den Eltern.
Alexandra Kersten, Fachbereichsleiterin Künste und Kulturbeauftragte
Mona Jas, Kulturagentin September 2013